Dover
Heute Morgen bin ich kurz nach sechs aufgewacht und war einige Minuten nach sieben an Deck früh genug, um die Einfahrt in Dover mitzuerleben. Zu früh, um zu schnallen, dass die Kamera auf Filmen eingestellt war. Immerhin konnte ich ein paar Screenshots retten. Nach einem kurzen Frühstück ging ich von Bord, wissend, dass es hier eine Identitätskontrolle gibt – und dass dies zu Staus führen kann. So war ich dann als eine der ersten im Bus und kam in den Genuss des üblichen Dramas:
Die ersten vier Gäste setzten sich in die vorderste Reihe. Von da wurden sie unverzüglich durch den Reiseleiter verscheucht, weil: Diese Plätze sind reserviert für Menschen mit Mobilitätseinschränkung (ich selber sass in der Mitte des Busses, beim Abgang zur Toilette, weil es da etwas mehr Platz hat um einen). Die vier begannen mit Frank, dem lokalen Reiseleiter zu diskutieren: Wenn jemand kommt, der behindert ist, gehen wir natürlich sofort nach hinten, aber das kam beim Engländer naturgemäss schlecht an: Diese Leute sollen nicht bitten und warten müssen, also setzen Sie sich bitte eine Reihe weiter hinten. Das taten sie dann, murrend und knurrend und fabulierend, welche Behinderung sie wohl für die vordere Reihe qualifizieren würde. Die nächsten Gäste kamen paarweise, setzten sich aber hintereinander, weil Fensterplatz. Das ging eine Weile gut, aber dann kamen noch mehr Pärchen, die hatten keine Fensterplätze mehr, wären dann aber gerne nebeneinander gesessen, was natürlich wiederum zu heftigen Diskussionen führte. Irgendwann sassen dann alle, bis auf eine Frau. Deren Reisepartnerin hatte sich etwas widerwillig neben mich gesetzt, ihre Kollegin sollte sich ganz nach hinten setzen, was ihr nicht gefiel. Worauf Frank meinte, dann solle sie doch nach vorne kommen, da sei noch ein Platz frei. Wollte sie auch nicht … Also bot ich an, dass ich nach vorne gehen könne, was sie dankend annahm. Und so sass ich dann in der ersten Reihe, neben der Reiseleitung, und hatte beste Voraussetzung für Fotos. Und hinter mir vier neidische Deutsche. Mindestens.
Die Fahrt führte vom Hafen hoch auf die Klippen, dann durch die wunderbare Landschaft von Kent und Sussex. Und das bei absolutem Traumwetter. Was die Locals auch immer wieder staunend betonten, denn die letzten vier Tage waren hier offenbar absolut grauslich. Ich trug meine Jacke heute den ganzen Tag im Rucksack spazieren und habe sie kein einziges Mal gebraucht. Im Gegenteil: Ich habe es geschafft, meinen gestrigen leichten Sonnenbrand im Décolletée noch Mal aufzufrischen.
Ich hatte mir von daheim aus einen faulen Ausflug gebucht: Busfahrt durch den „Garden of England“ – so benamst durch Henry VIII, der hier zu jagen pflegte, zur historischen Bahnstation von Tenderden Town.
Kent & East Sussex Railway
Die Linie, die ursprünglich von den Leuten genutzt wurde, die zur Hopfenernte fuhr, war 1961 stillgelegt worden, weil pro Woche durchschnittlich nur noch 92 Leute damit fuhren. Mit Hilfe von zahlreichen Freiwilligen wurde die Station in Tenderden, von 1905, wieder hergestellt, ein altes Signalhäuschen wurde an anderer Stelle abgebaut und hier wieder sorgfältig rekonstruiert. Obschon die Freiwilligen zu Beginn grosse Unterstützung fanden, auch durch British Rail, kam es zwischenzeitlich fast zu einem Abbruch der Übung: 7 unbewachte Bahnübergänge schienen ein zu grosses Risiko zu sein. Schliesslich fand man eine Lösung mit einer Art drehbaren Barriere, die entweder die Gleise oder die Strasse sperrte. Seit 1974 ist die Linie aber wieder in Betrieb, und offenbar nicht nur bei Kreuzfahrgästen beliebt. Nicht genutzte Wagen wurden zu Gästebungalows umgebaut und können gemietet werden.
Wir aber wurden in einen eleganten Speisewagen geleitet, wo uns ein richtiger englischer Cream Tea serviert wurde, mit Scones, Clotted Cream und Strawberry Jam. Ich erfuhr, dass es zwei Arten gibt, diesen zu geniessen: Nach Devonshire Art, wie ich das kannte: erst Clotted Cream, dann Jam. Oder Cornish, wo Jam zuerst auf die Scones kommt, dann erst der Clotted Cream. Und ja, das mache einen Unterschied! Zum Glück erhielten wie je zwei Scones, so konnten wir das gleich ausprobieren. Und ich sage euch: Ich wurde gepilchert! Ab sofort werde ich die Cornwall-Methode vorziehen.
Nach etwas zwei Dritteln der Strecke erhielt die Dampflok Wasser, wir erhielten eine zweite Tasse Tee, dann ruckelten wir der Endstation entgegen: Bodiam, bekannt, neben der Eisenbahn, für ein Wasserschloss, das wir von weitem sehen konnten.
Eurostar
Auf der Rückfahrt, wie schon auf dem Hinweg, unterhielt uns Frank mit Geschichten und Fakten aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Politik liess er, wie hier die meisten, vorwiegend aus, wies aber darauf hin, dass ein Bevölkerungswachstum von über 5 % pro Jahr, vorwiegend durch Zuwanderung aus Europa, hier in Dover und Umgebung wohl zum Ja zu Brexit beigetragen habe. Ein wichtiges Thema war naturgemäss auch der Eurostartunnel. Nicht nur, weil wir an der Ein- und Ausfahrt vorbeiführen und mehrmals die Geleise kreuzten, sondern auch wegen der schieren Grösse und Komplexität des Bauwerks (und nein, ich schmeisse hier nicht seine Zahlen in die Runde, geht googeln). Hier um Dover schafft der Tunnel vor allem Probleme: An guten Tagen nur Staus, an schlechten Tagen – wenn in Frankreich gestreikt oder der Tunnel sonst blockiert wird – werden die rund 52’000 Lastwagen pro Woche auf einem oder zur Not auch mal zwei Streifen der Autobahn abgestellt. Wenns länger dauert, gibt’s Toitois, ansonsten schlagen sich die Chauffeure in die Büsche. Die Polizei kontrolliert dann, immer nur so viele Lastwagen vorrücken, wie auf der nächsten Fähre Platz haben – oder, wenn der Betrieb wieder aufgenommen wird, im Zug. Wer versucht, auf der Spur für Pkws oder Umwegen vorzudrängeln, wird ans hintere Ende der Kolonne zurückgeschickt. Seit Jahren rede man davon, dass es einen riesigen Parkplatz geben sollte, mit sanitären Einrichtungen und Verpflegungsmöglichkeiten und einem Nummersystem, um das Ganze in geordnete Bahnen zu lenken, aber das scheitere an den Nimbys: Jenen Leuten, die das grundsätzlich eine gute Idee fänden (also fast alle), aber: Not in my back yard!
Dover Castle
Kurz nach eins waren wir wieder zurück im Hafen, aber da das Wetter so schön war, ging ich gar nicht erst aufs Schiff, sondern löste ein Ticket für den Shuttlebus. Ich liess mich direkt zum Castle hoch fahren, um mir die Anlage anzusehen. Stolze 20 Pfund und 90 Cents kostet der Eintritt für einen Erwachsenen, dafür hätte ich allerdings auch das Museum und die ganzen Anlagen aus dem Zweiten Weltkrieg ansehen können, inklusive einer Simulation, wie ein verletzter Soldat durch die ganze Anlage bis ins unterirdische Spital gelangt. Darauf hatte ich allerdings verzichtet, das wäre mir heute zu bedrückend gewesen.
Falls es jemanden interessiert: Hier lang, bitte:
https://www.nationaltrust.org.uk/the-white-cliffs-of-dover/features/visiting-fan-bay-deep-shelter
Ich genoss den Spaziergang in der Anlage, schoss unglaubliche Fotos und genoss die Wärme. Anschliessend hüpfte ich wieder in den Shuttle Bus und fuhr ins Stadtzentrum.
Les Fleurs
Ich machte ein paar hübsche Fotos, hob etwas Geld ab und hielt Ausschau nach dem kleinen Café, das ich beim Vorbeifahren gesehen hatte. Aber natürlich verlief ich mich wieder einmal und landete in einer recht schrägen Strasse. Eine Frau versuchte einen Besoffenen, der offenbar ihr Mann war, daran zu hindern, ihr Geld aus der Handtasche zu nehmen. Schliesslich ging dieser weg, mit einem herzhaften „I Love you too, Baby!“. Kaum war der weg, kam ein anderer Mann um die Ecke und beschimpfte die Frau, dass sie dem Typen kein Geld gegeben hatte. Offenbar hatte dieser Schulden bei ihm … Ich versuchte zurück ins Stadtzentrum zu gelangen, da sah ich eine wunderschöne Fassade, Jugendstil, mit herrlicher, wenn auch leicht angeschlagener Keramikverkleidung. Das machte mich neugierig, und ich beschloss, dass es statt Kaffee auch ein Shanty sein könnte.
Das Innere des Pubs sah aus wie eine Mischung aus Jugendstil und „Was immer du rauchst – hör auf damit!“ Kronleuchter und Putti, Musikinstrumente und ein Boxhandschuh, ein Billardtisch an der Decke, als Lampe … viel schräger geht nicht. Kent, der Besitzer, freute sich an meinem Interesse und wies mich auf die Inschriften an den Balken hin: Da sind lauter Kanalschwimmerinen und -Schwimmer verzeichnet, mit Zeiten, so weit ich sah, zwischen 9 und 20 Stunden. Das Pubschild zeigte ursprünglich übrigens Napoleon – aber das Gesicht zeigt den jetzigen Besitzer.
Der Pub kann für Partien gemietet werden und ist auch auf Facebook zu finden:
https://www.facebook.com/LesFleursDover
Kurz vor fünf war ich zurück an Bord, gönnte mir einen Naked Burger und begann, Fotos, zu bearbeiten. Das Resultat seht ihr wie immer in der Slideshow.
Abendprogramm dürfte dürftig werden, ich bin ziemlich müde. Fotos von der Ausfahrt sollte es aber noch geben …
Ja offensichtlich lässt es sich hier gut leben. Immer weiter so
Daddy