Bœuf Sous-Vide by Betty Bossi

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Kunst & Kulinarik – Schweizer Nose-to-Tail-Premiere: einer solchen Einladung konnte ich natürlich nicht widerstehen. Eine kulinarische Vernissage, bei der die Besuchenden ein ganzes Rind verspeisen konnten? Das klang nach etwas, was mir und meinen beiden kochenden Töchtern (beides Profis) gefallen könnte. Leider konnten die beiden mich aus zeitlichen Gründen nicht begleiten, dafür sprang kurzfristig Andrea Jerger ein, die gelernte Metzgerin, die, wie sich später zeigte, in ihrem Element war.

Erst wurde ich aber beschimpft, dass ich überhaupt daran dachte, so einen Event zu besuchen. “Abartig” sei das, beschied man mir auf Twitter. Ins selbe Horn stiessen Kritikerinnen und Kritiker bei der öffentlichen Schlachtung in Sissach, letzte Woche.

Ich sprach mit meinem Vater darüber und fragte ihn, ob mich meine Erinnerung trügten?

Als Kind führte mich der Schulweg an einem Bauernhof vorbei, an dem regelmässig geschlachtet wurde. Da konnte es passieren, dass einem Natalinos Mutter, mit beiden Armen bis zum Ellenbogen im Blut rührend, einen schönen Tag wünschte. Eklig fanden wir das nicht – eher faszinierend. Und wir wussten, obschon ich da erst in die Primarschule ging, woher das Fleisch kam: Nicht abstrakt-abgepackt aus Coop oder Migros, sondern von Tieren. Und dass der Bauer – und auch wir – aus diesem Grund (und wohl auch, weil meine Eltern aufs Geld achten mussten) nicht nur die Filetstücke nutzte, sondern das ganze Tier mit allen Innereien (wobei ich auf Lunge gut und gern verzichten konnte).

Heute nennt sich das Nose-to-Tail und wird wiederentdeckt, weil die Menschen doch langsam kapieren, dass wir sorgsamer mit unseren Resourcen – und dazu gehören eben auch die Nutztiere – umgehen müssen.

“Abartig” sei das, schimpfte bei meiner Anreise ein Mann im Tram am Telefon. Statt Gratis-Konzerte zu geben, würden die im Kaufleuten eine ganze Kuh als Kunst deklarieren und essen. Eine Schande sei das, mit Musik habe das nichts zu tun, und mit Kunst wohl auch nicht.

Letztere hätte ich mir auch nicht wirklich vorstellen können, vor dieser Aktion. Sandra Knecht war mir kein Begriff – aber das Foto, das die Einladung ziert, erinnerte mich an Flämische Maler, insbesondere Pieter Breughel der Ältere mit seiner Bauernhochzeit. Und auch die Grossaufnahmen von anderen Fleischstücken, die in der Kronenhalle ausgestellt waren, hatten durchaus einen ästhetischen Reiz.

Mich faszinierte aber am meisten das direkte Nebeneinander von Ausbeinen, Kochen und Essen. Die Metzger, die zwar auf engerem Raum als sonst, aber sehr professionell (sagte meine Metzgersfrau, Andrea) Fett und Knochen ablösten, Fleischstücke zurecht schnitten etc. (eine raue und schweisstreibende Arbeit), während das interessierte Publikum, inkl. mir, darum herum wuselte, sich an den Foodständen mit Köstlichem verwöhnen liess und zwischendurch an einem Drink nippte. Wobei gesagt werden muss, dass das Fleisch ja bereits eine gewisse Zeit abgehangen hat  – im Gegensatz zur öffentlichen Schlachtung war das heute Abend also keine blutige Angelegenheit. Speziell was es aber dennoch … Entsprechend nutzen die Medien natürlich die Gelegenheit für spektakuläre Bilder, aber auch für Interviews mit der Künstlerin, den  beteiligten Metzgern und Vertretern vom Betty Bossi, der Organisatorin der Veranstaltung.

Betty Bossi, die Köchin der Nation, die es nie gab – und die doch fast alle Schweizerinnen und Schweizer von  Kindheit an begleitet hat – wollte mit diesem Event einerseits die Werttschätzung und den Respekt den Tieren gegenüber zum Ausdruck bringen, die auf unserem Teller landen; andererseits aber auch das Kochverfahren Sous-Vide einer breiteren Öffentlichkeit nahe bringen. In der Gastronomie ist das Garen im Vakuum, bei niedrigen Temperaturen, schon lange im Einsatz für saftiges, zartes Fleisch, aber auch für aromatische Gemüsegerichte etc. Die ersten Sous-Vide-Geräte für den Privathaushalt waren sperrig und kaum für den alltäglichen Gebrauch geeignet. Neu gibt es jetzt eine Art Tauchsieder, der die Temperatur in einer Pfanne oder einer Schüssel über Stunden konstant hält – ideal für Fleischstücke abseits vom Filet, die auf diese Weise speziell fein gelingen.

Den Beweis hat das Team um Sandra Knecht und Betty Bossi erbracht: Andrea und ich genossen Pulled Burger, Speck vom Rindskopf, Blutwurst und Herz, Zunge und Roastbeef – es hätte noch weit mehr Auswahl gehabt, aber ich war danach pappsatt.

Und natürlich posteten wir beide fleissig auf Twitter und Facebook (#nosetotail), was mir prompt ein weiteres “abartig” eintrug  – diesmal von meiner Patentochter, die konsequent vegetarisch, wenn  nicht sogar vegan lebt. Sie setzt sich ein gegen Massentierhaltung und ist sehr engagiert, was mir durchaus Respekt abverlangt. Aber ich kann das nicht. Zwar esse ich auch nicht mehr so viel Fleisch wie früher, aber ganz verzichten kann und will ich nicht. Deswegen finde ich eine derartige Veranstaltung (auch wenn mir der kommerzielle Aspekt durchaus auch bewjusst ist) nicht abartig, sondern ehrlich: Hier wird sichtbar, was sonst verdrängt wird. Fleisch wächst eben nicht vakuumiert in Migros oder Coop und wird – ausser in Experimenten – auch nicht in einer Petrischale gezüchtet. Es stammt von einem Tier, das gelebt hat, für uns getötet wurde – und es deswegen verdient, dass man nicht nur die Filetstücke raussucht und den Rest an Haustiere verfüttert (wobei: Lunge können diese jederzeit haben  – siehe oben!).

Da kann man wegsehen oder hinsehen. Ich entschied mich für letzteres. Und falls ihr das auch wollt:

Hier die Impressionen des Abends:

Weitere Links:

  • Watson: Tier und Tod im Kokspalast
  • Persoenlich: Vakuumiertes Rind als Stilleben inszeniert
  • SRF: Kochend auf der Suche nach Heimat und Identität – ein Porträt von Sandra Knecht

Disclaimer:

Ich habe in meiner beruflichen Karriere des öfteren für Betty Bossi gearbeitet  – sowohl auf Agenturseite als auch als Selbständige. Mit diesem Projekt hatte ich beruflich nicht zu tun, sondern war als Gast eingeladen; sicher auch, weil ich aktuell an Projekten rund um die Abo- und Kunden-Kommunikation mitarbeite. Blogpost und Social-Media-Beiträge spiegeln meine ganz private Meinung und entstanden aus persönlichem Antrieb.