Tunesien, 29.12.2013

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Kinner, die sind noch viel schlimmer, als wir nach der Ansage des “kleinen Chefs” (seine Worte) angenommen hatten. Bereits vor dem Nachtessen herrschte in der Lobby ein Riesentohuwabou, so dass man sich nur noch brüllend unterhalten konnte. Um 18 Uhr liessen sie ca. 50 Leute in den Speisesaal, alles EuropäerInnen. Das Buffet war sehr reichhaltig und schön angerichtet. Ausnahmsweise füllten wir Vorspeise- und Hauptspeisenteller zungleich auf, was sich als sehr weise erwies. Was folgte, übertraf Reinhard Mays Schlacht am kalten Buffet um Längen. Eine Viertelstunde nach der Buffeteröffnung gab es kein Brot mehr – aber über die Hälfte davon landete später im Abfall. Die Leute drängelten und schubsten, als gäbe es kein morgen … Gemäss Christine, die bis vor kurzem hier in Tunesien gelebt und auch die Revolution mit erlebt hat, trifft diese Grundstimmung für viele Tunesier tatsächlich zu – auch wenn die Leute hier im Hotel zu den Profiteuren zählen dürften. Während der Revolution seien viele Geschäfte verwüstet worden. Versicherung gab es in den seltensten Fällen, und die meisten hatten kein Geld, um dir Geschäfte wieder aufzubauen. Die Vermieter kannten aber keine Gnade und stellten die Leute vor die Türe, wenn sie mit der Miete mehr als eine Woche im Rückstand waren. Wenn sie Glück hatten, konnten sie einen Teil der Waren und des noch ganzen Mobiliars behalten, das meiste wurde aber zur Tilgung der Miete und für Schadenersatzforderungen einbehalten. Wenn die Leute als fliegende Händler versuchten, sich etwas Geld zu verdienen, wurden sie von den restlichen Geschäftsbesitzern verjagt – durch die Polizei oder durch Schläger. So konnten sie auch die Miete für die Wohnung nicht mehr bezahlen und kein Geld zurück in die Dörfer schicken, wo ihre Familien verzweifelt darauf warteten. Einige versuchten sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzubringen, Arbeit gab es auch immer wieder – nur Zahlung gab es oft keine. Die jungen Männer hausten zu sechst oder acht in zwei Zimmern und schlugen sich durch, wie es eben ging, bis sie auch hier ihren Mietanteil nicht mehr aufbringen konnten und auf der Strasse landeten.
Selbst wer eigentlich Geld hat, hat Mühe, die benötigten Dinge einzukaufen, weil die Wäre entweder nicht verfügbar ist – oder das Geld nicht: Banken haben selber keines und schliessen teilweise nach wenigen Stunden wieder oder beschränken die Bezüge auf 50 Dinar ( 50’000, aber die Nullen interessieren hier niemanden). Das entspricht beim heutigen Kurs gerade mal 32 Franken … Behörden und Ämter funktionieren gar nicht oder nur mit Bestechung. Kurz: Dem tunesischen Volk geht es mehrheitlich massiv schlechter als vor der Revolution. Die unterschiedlichen Gruppierungen sind zerstritten, es gibt keine Macht oder Autorität, welche sie an einen Tisch bringen könnte. Die zahlreichen Versprechungen, die gemacht wurden, haben sich als Schall und Rauch herausgestellt – entsprechend enttäuscht und wütend sind viele Menschen. In einem Umfeld, in dem es keinen Halt gibt, finden fundamentalistische Bewegungen natürlich einen guten Nährboden. Die gebildeten Tunesier fürchten denn  auch die zunehmende Islamisierung.

Von all dem bekommen wir hier im Hotel und in Hammamet natürlich nicht viel zu spüren, abgesehen von den vielen geschlossenen Hotels, den Schiffen, die zu verkaufen sind und den extrem aggressiven Händlern. Man kann nur ahnen, wie schwierig es ist, unter diesen Umständen ein Hotel zu betreiben und Tag für Tag ein ansprechendes Buffet bereitzustellen. Ich kann irgendwie auch verstehen, wenn die Betreiber froh sind, dass so viele Einheimische bzw. Menschen aus dem arabischen Raum gebucht haben – auch wenn sie teilweise zu sechst in einem Zimmer wohnen und sich aufführen wie eine Horde Wilder. Gleichzeitig frage ich mich aber schon, wie man hier den Tourismus wieder aufbauen will, wenn die Menschen sich so rücksichtslos benehmen: Letzte Nacht war hier Party bis um 2 Uhr morgens, mit Verstärker auf Höchstleistung, Gegröhle und Gekreische, Türeknallen und dem Klacketiklack der hohen Absätze der Frauen, die auf dem Marmor- und Keramikboden umherstöckelten. Dazu wurde geschlotet, dass sich dir Balken bogen und der Rauch durch dir Klimaanlage bis in die Zimmer kroch … Keine die Mütter hat Spielsachen für die Kinder dabei. Vormittags und nachmittags sind die je 2 Stunden im Kinderclub, abends tanzen sie ab 21 Uhr eine Stunde in der Minidisco – dazwischen sind sie sich mehrheitlich selbst überlassen, spielen in den Gängen Verstecken , fahren mit dem Lift hoch und runter oder blockieren die Türen.

Natürlich gibt es Ausnahmen – hier im Hotel und auf der Promenade, die heute stark frequentiert ist: Familien, die sich anständig benehmen, deren Kinder hervorragend erzogen sind und freundlich grüssen. Ein kleiner Junge hat sich ganz lieb bei mir entschuldigt, weil er versehentlich gegen meinen Stuhl gerannt ist. Welch ein Unterschied zu den Rüppeln, dir sich gestern Abend immer wieder zwischen mir und der Mauer durchdrängten, weil sie zu faul waren, um meinen Tisch herumzugehen …
Wohl wegen des Lärms schlief ich sehr schlecht und träumte wirres Zeug: Ich sollte einen Werbespot konzipieren und drehen – gleichzeitig, denn die Schauspieler waren schon da. Es ging um ein Urdinkelbrot mit Birnenstückchen, das erstaunlich gut schmeckte. Wir probierten verschiedene Dinge aus, der Kunde wurde immer unzufriedener, die Stimmung hektischer. Schliesslich hatten wir eine Sequenz im Kasten: Ein kleiner Mann in Tracht sass vor einem entsprechend gedeckten Tisch, in einer luxuriösen Umgebung,  und genoss sein Leben sichtlich. Aus dem Off erklang eine Stimme: Mit em nöje Birebrot, chly Moschtbröckli und eme Quöllfrisch chunnt ou e Appizäller gross use! Der Kunde war begeistert, der Werbeleiter ekstatisch – da wies uns ein Kameramann darauf hin! dass wir den Film nicht würden verwenden können. Im Hintergrund drängte sich Uwe Ochsenknecht vor die Kamera und maulte: Aber das verdammte Geheimnis verrät er dennoch nicht! – Ich erwachte, ziemlich sauer, und musste dann lachen: Es war kurz nach 5 Uhr morgens! und in meinem Zimmer roch es verführerisch nach frischem Brot – die Küche war offenbar am Aufrüsten für den Ansturm aufs Frühstücksbüffet.

Letzteres verlief erwartungsgemäss übel: Die meisten Leute kamen im Trainer und in Puschen runter, einige der Damen als aufgedonnerte Gucci-Tussis. Männer und Frauen sassen teilweise an getrennten Tischrn, wobei die Frauen an beide TiscNchtessrn he Unmengen von Waren anschleppten. Christine beelendet das Ganze noch mehr als ich: Sie weiss, dass viele der Kellner, die hier arbeiten, monatelang von ihren Familien getrennt sind und jede Woche per Western Union Geld nach Hause schicken. Von dem, was sie hier abräumen und wegwerfen müssen, könnte sich ihre Familie zu Hause ernähren.

Bevor ich meinen täglichen Spaziergang mache, spreche ich mit dem Chef de Réception wegen der lauten Musik. Er verspricht, mit dem Chef d’Animation zu reden, macht mir aber keine grossen Hoffnungen: Die Leute wollen feiern, sie haben dafür bezahlt …. Ich habe auch bezahlt, bin ich versucht zu antworten, weiss aber, dass das lahm klingt. Und doch: Ich werde wohl nicht so schnell wieder nach Tunesien fliegen.

Zum Glück ist es immer noch relativ warm, so kann ich mich nach meinem dringend benötigten Mittagsschlaf auf meiner Terrasse installieren, um zu schreiben und zu lesen. Zwar plätschert unter mir der Springbrunnen, und ab und zu weht Verkehrslärm rüber, aber ansonsten ist es erfreulich ruhig!

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Ein Gedanke zu „Tunesien, 29.12.2013“

  1. Die Speisen sehen wirklich lecker aus – aber der Rummel würde auch mir nicht gefallen und meine Nerven zu sehr strapaziere. Erholungsferien wären sicher unvermeidlich.

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