Als Sehende im Skilager der Blinden und Taubblinden

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Als 17-jäjrige lernte ich im Schulorchester Sabrina kennen (alle Namen zum Schutz der Privatsphäre geändert). Sie hatte eine ältere Schwester, die mit 5 Jahren erblindet war, und einen Bruder, der von Geburt aus blind war – genetisch bedingt, so weit ich mich erinnere, aber ich kenne die offizielle Diagnose nicht. Für mich waren die beiden die ersten Menschen mit einer  Behinderung, mit denen ich direkt zu tun hatte … sonst kannte ich das nur vom Hörensagen. Entsprechend gehemmt war ich auch im täglichen Umgang mit den beiden. Alexandra hat mir das aber schnell ausgetrieben! Ich erinnere mich zum Beispiel, dass mein Götti mir zum Geburtstag eine Halskette mit einem Sternzeichen-Anhänger geschenkt hatte, auf den ich sehr stolz war – und das natürlich überall rumerzählte. Alexandras «Zeig mal her!» liess mich zu Eis erstarren … Sie aber lachte nur und streckte die Hand aus, damit ich ihr den Anhänger reinlegen konnte. «Oh, da hat’s ganz viele Sonnenstrahlen um die Fische rum», meinte sie, und gab mir die Kette zurück. Um mir daraufhin den Kopf zu waschen: Ich solle aufhören, krampfhaft Wörter wie schauen, sehen oder Farben zu vermeiden … Sie würde schon nachfragen, wenn sie sich etwas nicht vorstellen könne. Und überhaupt machte ich durch mein krampfhaftes Bemühen, ihre Behinderung zu umgehen, diese viel dominanter, als sie selber das empfinde. Das sass!

Alexandra zeigte mir auch, dass man Blinden (und wohl auch anderen Behinderten) nicht ungefragt helfen soll, dass man sich Mitleid irgendwohin stecken könne, dass sie nicht einfach nur und in erster Linie blind sei, sondern eine lebhafte junge Frau mit ganz vielen Interessen, spannenden Hobbys, Ecken und Kanten. Ich lernte viel von ihr – nicht nur über den Umgang mit Behinderungen, sondern zum Beispiel, mich zu schminken!  Ja, sie, die zum Glück meine grossflächig ummalten türkisfarbigen Augen nie sehen musste, brachte mir bei, mit Lidschatten und Wimperntusche umzugehen, so dass ich nicht mehr wie ein Boxer nach der 8. Runde aussah, sondern wunderschön, mit grossen, glänzenden Augen …

Blinder Skifahrer, (c) Bigstockphoto

Blinder Skifahrer, (c) Bigstockphoto

Das eindrücklichste Erlebnis hatte ich aber, als ich Sabrina und ihre Familie ins Skilager begleiten durfte. Ich selber fuhr da schon nicht mehr Ski, da ich zwei Jahre vorher einen schweren Unfall hatte, aber Winterwandern und viel Zeit mit Sabrina vermochten mich durchaus zu locken. Ihre Eltern wollten für Kost und Logis aufkommen, wenn ich dafür mit Sabrina jeden Tag Latein paukte (eine Streberin zu sein kann sich ja durchaus mal auszahlen). Wir hatten viel Spass in diesem Ferienhaus: Wir Mädels tratschten die halbe Nacht, morgens machten alle gemeinem Frühstück, dann stoben wir in alle Richtungen davon. Die Eltern und Sabrina gingen Skifahren, Alexandra und ihr Bruder besuchten spezielle Skikurse für Blinde und Taubblinde, ich ging spazieren oder las auf einem sonnenbeschienenen Liegestuhl. Gegen Abend trafen wir uns wieder, spielten zusammen, kochten Abendessen und erzählten einander von unseren Erlebnissen. Und da erfuhr ich, dass die Skikurse am nächsten Tag auf einem Berg stattfinden würden, den ich auch zu Fuss erreichen könnte – und von dem ich mit der Gondelbahn wieder runter käme. Also beschloss ich, die beiden da oben zu besuchen, um zu sehen, wie das ginge:

Wie können Blinde bzw. Sehbehinderte überhaupt Skifahren?

Die Klasse zu finden war leicht: Etwa 20 junge Menschen, die viel lachten und rumalberten. Als der Unterricht begann, erkannte ich, dass es drei unterschiedliche Techniken gab: Einige fuhren mit einer Begleitperson zusammen, die sie von hinten mit Zurufen dirigierten.  Andere, die offenbar noch einen Rest Sehvermögen hatten, fuhren hinter ihrer Begleitperson her, die eine leuchtende Jacke trug. Die dritten fuhren parallel, zu zweit mit 3 Stöcken, wobei sie sich den mittleren teilten. Uiuiui! Wer immer das mit mir hätte machen wollen, wäre mit einem Skisalat bedient worden! Aber ganz ehrlich: Ich war fasziniert! Dieses grenzenlose Vertrauen, dass die Jugendlichen hier bewiesen, die sich wortwörtlich blind auf ihre BegleiterInnen verliessen … Die sich den Hang hinunter stürzten, die Fahrt, den Wind, die Geschwindigkeit genossen und darauf vertrauten, dass die BegleiterInnen sie nicht nur sicher führten, sondern auch vor rücksichtslosen anderen, sehenden Skifahrern beschützten. WAHNSINN!

Aber die Krönung kam beim gemeinsamen Mittagessen:

Andreas Begleitung hatte mich am Pistenrand entdeckt und lud mich ein, mit der Truppe zu essen. Ich sass am Tisch mit etwa 6 Mädchen, darunter Andrea und ihre beste Freundin, die von Geburt an taubblind war. Andrea tippte mit ihren Fingern blitzschnell auf Sarahs Hand-Innenfläche und umgekehrt, die beiden lachten und kicherten und alberten rum. Am Anfang gab sich Andrea noch Mühe, die ausgetauschten Witze nicht nur zu Lormen, sondern auch zu formulieren, aber irgendwann verlor sich das, und ich sass da, ausgeschlossen vom Lachen, von der Freude, der Gemeinschaft. Rund um mich sah ich strahlende Gesichter, Menschen, die auf unterschiedlichste Art miteinander kommunizierten … Aber da ich ihre Sprache und ihre Welt nicht kannte, blieb ich aussen vor, ausgegrenzt.

Ich war, an diesem Mittag, in diesem Raum, die einzige Behinderte.

 

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