Der 7. KMSK Familien-Event in der Kindercity Volketswil stand unter dem Thena «Leben zwischen Integration und Ausgrenzung». Doch obschon ich erst das dritte Mal daran teilnahm, wurde ich von den teilnehmenden Kindern und Erwachsenen vom Fleck weg integriert: Im Gewusel bei der Begrüssung wurde ich gedrückt und geknuddelt, Kindern und Eltern vorgestellt, die ich bis jetzt noch nicht getroffen hatten …
Ausgegrenzt wurde allenfalls die Gemeinschaft auf den Social-Media-Kanälen, bei denen ich eigentlich Öffentlichkeit hätte schaffen sollte für die Familien, in denen eines oder mehrere Kinder von seltenen Krankheiten betroffen waren. Meine Präsenz wurde eingefordert, Ablenkung durch das blöde Telefon nicht akzeptiert – und ich, ich gebe es gerne zu, fand das herrlich.
Doch als die Kinder mit den zahlreichen Helferinnen und Helfern abschwirrten / rollten, um Gummistiefel zu bemalen, Märchen zu lauschen und sonst wie umsorgt zu werden, trafen sich die Erwachsenen zum Austausch – und hier zeigte sich schnell: Das Thema Integration und Ausgrenzung bewegt. Eine kurze Umfrage im Publikum stellte klar, dass nur wenige der Kinder einen Regelkindergarten bzw. die Regelschule besuchen. Und glücklich mit der aktuellen Situation waren davon wiederum nur sehr wenige.
Auf dem Podium tauschten sich Nicole Kohn und Claudia Ötterli aus, beides Mütter von betroffenen Kindern; Diane Albers, betroffene Mutter und Schulleiterin; Marion Heidelberger, Lehrerin und Vizepräsidentin des Lch, des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz und Mutter von verhaltensoriginellen Kindern; und Yvonne Feri, Nationalrätin. Das Gespräch wurde von Christine Maier moderiert, die den Begriff verhaltensoriginell kurzerhand auch für ihre eigene Tochter und für sich selber adaptierte. Ziemlich schnell war klar:
Inklusion funktioniert in seltenen Fällen
Theoretisch ist Inklusion bzw. Integration in der Schweiz recht klar geregelt.
Die Rede ist zwar von Fortschritten, aber die Behindertenrechtskonvention wird längst nicht erfüllt. Zu unterschiedlich sind die Regelungen in den einzelnen Kantonen und Gemeinden, zu klein der gemeinsame Nenner:
Eine inklusive Schweiz, in der Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen selbstbestimmt leben können, liegt trotz teilweise bestehender Rechtsgrundlagen noch in weiter Ferne. […] Damit das Bildungssystem der Schweiz inklusiv im Sinne der BRK wird, ist eine grundlegende Anpassung des Systems und der rechtlichen Grundlagen erforderlich» (Inclusion Handicap, Anhang in: Schweizerischer Bundesrat 2016, S. 62. Quelle)
Im Gespräch wird sehr schnell deutlich:
Zufrieden ist auf dem Podium niemand – die Mütter nicht, die Lehrerinnen und Schulleiterinnen nicht. Das Gesetz ist zwar vorhanden, bei einzelnen, engagierten Lehrpersonen und SchulleiterInnen auch der Wille – aber es fehlt an Wissen und Erfahrung, an Weiterbildung, an Zeit und Ressourcen. Die heilpädagogische Unterstützung ist auf wenige Stunden limitiert, ebenso die Assistenzstunden, ein Knowhow-Transfer findet kaum statt. “Natürlich integrieren wir Ihr Kind im Regelkindergarten”, wurde Nicole beschieden, “vorausgesetzt, er ist trocken und kann den Anweisungen folgen”. Kurz: Wir integrieren, wer wie alle anderen funktioniert. Was, wen wundert’s, nicht gelang: Zwar war Samuel trocken, als er in den Kindergarten eintrat – er begann aber wieder einzunässen, weil er sich da überhaupt nicht wohl fühlte. Die meiste Zeit verbrachte er nämlich mit Warten, weil niemand Zeit hatte, ihm zu erklären, was man von ihm erwartete. Und er sich daraufhin in sich selber zurückzog. Der fröhliche, lebhafte Bub (ich habe Samuel bei früheren Anlässen kennengelernt) wurde immer stiller und unglücklicher, so dass seine Eltern ihn da rausholten und im Zeka platzierten. Hier ist Samuel nun wieder glücklich und – wie eine Freundin von Nicole sagte – besten in der Klasse integriert.
Was fehlt?
- Das Schweizer Schulsystem (was an sich der falsche Ausdruck ist, wird das meiste ja eben kantonal oder innerhalb der Gemeinde geregelt) ist nicht auf Inklusion angelegt. Die Betreuung von Kindern mit Behinderungen ist kein Teil des Lehrplans; es gibt zu wenig HeilpädagogInnen – und bei Klassen mit 20 und mehr SchülerInnen können auch nicht noch zusätzlich AssistenntInnen platziert werden, selbst wenn Eltern diese gratis zur Verfügung stellen würden.
- Bei 7 bis 8 Tausend seltenen Krankheiten in der Schweiz (mit 1 bis 16 Betroffenen) haben die wenigsten Schulen Erfahrung mit den Bedürfnissen der Kinder. Das Wissen und die Erfahrung, welche die Eltern mitbringen, kann teilweise nicht genutzt werden: Einerseits, wie Marion Heidelberger betont, weil sich das schulische Setting halt stark vom familiären Setting unterscheidet; andererseits aber auch, weil Ressourcen knapp sind und ja nicht nur Kinder mit seltenen Krankheiten integriert werden müssen, sondern auch fremdsprachige Kinder, Kinder mit traumatischen Erfahrungen oder mit Verhaltensauffältigkeiten.
- Der Austausch unter den Schulen bzw. den Lehrenden ist ungenügend: Der Knowhow-Transfer zwischen Heilpädagogen und übrigen Lehrenden findet kaum statt; es gibt zu wenig Zugang zu Best Practices (in diesem Punkt ist z.B. Deutschland etwas weiter. Siehe weiterführende Links).
- Das Bildungsssystem an sich – hier hakt vor allem auch Yvonne Feri, die Politikerin, ein – wird viel zu oft nur als Kostenfaktor wahrgenommen, muss effizient sein, muss sparen. Und wird damit den Kindern (nicht nur denjenigen mit Behinderungen) nicht wirklich gerecht.
- Das Verständnis bei Behörden und Institutionen, dass die rein rechtliche Handhabung nicht funktioniert, dass eben NICHT gewartet werden kann, bis eine Diagnose vorliegt (was teilweise Jahre geht und die Familie ohnehin belastet): Stichwort Therapien oder Unterstützungen, die sichtlich helfen, aber nicht auf der Liste der anerkannten Interventionen stehen und deswegen nicht bewilligt / bezahlt werden.
Was brauchts?
In diesem Punkt sind sich alle Frauen auf dem Podium einig:
- Mehr gegenseitiges Verständnis; grössere Sichtbarkeit der Herausforderungen auf beiden Seiten; mehr Austausch und Informationen über Gemeinde- und Kantonsgrenzen hinweg.
- Bessere und koordiniertere Unterstützung der Eltern, sozio-administrative, finanziell und organisatorisch.
- Ein Umdenken für alle – für SchülerInnen, Lehrende und Eltern:
Kinder mit besonderen Bedürfnissen sollen nicht nur als Last angesehen werden, sondern auch als Bereicherung des Klassenverbandes. Dieser Aspekt geht sehr oft vergessen, obschon – und das wird eben gerade auch an Anlässen wie dem KMSK Familien-Event deutlich – die Kinder ja nicht nur fordern, sondern auch geben: Liebe, Hilfsbereitschaft, Sozialkompetenz und mehr. Nicht nur die Mütter auf dem Podium, auch die Eltern im Saal erleben das viel zu oft anders: Sie müssen sich bei anderen Eltern rechtfertigen, weil ihr Kind die Klasse zurückhalte, die Lehrerin zu stark beanspruche, Privilegien geniesse etc. - Mehr Unterstützung für Lehrpersonen: durch Weiterbildung, HeilpädagogInnen und Assistenzen (siehe auch Positionspapier der Schweizer Lehrer. Stammt zwar von 2010, vieles gilt aber leider in vielem auch heute noch).
- Angemessene Klassengrössen (also eher kleinere Klassen) und ein adäquates Raumkonzept.
- Zusammenarbeit der Fachleute – also auch Einbezug von Ärzten, Therapeutinnen etc. (siehe auch “Weiterführende Links”, unter der Bildergalerie).
Was bleibt …
- Zurück bleibt ein schaler Geschmack:
Was, wenn am Beispiel der Kinder mit besonderen Bedürfnissen nur sichtbar wird, was wir alle schon längst ahnen … Dass unsere Gesellschaft viel zu wenig in Bildung investiert – und zu viel ins Funktionieren? Was, wenn vor lauter Leistungsdruck nur das gesehen wird, was sich in Noten messen lässt oder zählt für den Übertritt in die Sekundarschule oder das Gymnasium? Und dann diese eine Aussage, von Claudia Ötterli: «Mein Sohn Mael wird alles, was er lernen kann, durch seine Krankheit wieder verlernen. Der Satz “Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir” tut da nur weh. Wir als Eltern konzentrieren uns darauf, dass Mael sich in der Schule wohl fühlt. Weil das Jetzt zählt.» - Und die Hoffnung.
Dass der Förderverein hier, wie auch in anderen Bereichen, Sichtbarkeit und Öffentlichkeit schaffen kann. Dass es gelingt, alle Beteiligten zu einem offenen Austausch zu bewegen; Ressourcen zu bündeln und sich über Best Practices auszutauschen. Und dass das, was heute noch Ausnahme ist, vielleicht doch immer mehr zur Regel wird.
Denn eines weiss ich, aus dem persönlichen Austausch mit “meinen” Familien, die ich durch KMSK kennengelernt habe: Das Zusammensein mit diesen Kindern und Familien ist eine Bereicherung!
- (c) Die Fotos sind Urheberrechtlich geschützt, Verwendung nur durch die Abgebildeten Personen gestattet.
Weiterführende Links:
- KMSK, Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten
- Integration und Schule
- Kinderrechtskonvention – Recht auf Bildung
- Kinderrechte und Partizipation
- szh, Schule und Integration
- PHSH Integration – Inklusion
- Inklusion im Fokus – Unterstützung für Lehrende (Deutschland)
- Inklusion Schule – Materialsammlung für Lehrende (Deutschland)
- Fritz und Fränzi – Wie Inklusion gelingt
Der Verein ist auf Spenden und Sponsoren angewiesen.
Falls auch du KMSK unterstützen willst: Hier geht’s zur Webseite und den Möglichkeiten, wie auch du helfen kannst.
Warum ist hier immer nur die Rede von” Frauen”, kümmert sich aus der “Männerwelt” eigentlich niemand um dieses Problem? Es handelt sich um ein “Gesellslchaftsproblem” und sollte meiner Meinung nach auch von Männern mehr unterstützt werden.
Du hast vollkommen recht! Viele Väter engagieren sich bei KMSK und sind auch bei den Kindern sehr präsent. Aber meist sind es die Mütter, die ihren Beruf aufgeben und sich hauptsächlich um die Betreuung der Kinder kümmern; sie sind es, die angerufen werden, wenn während der Tagesbetreuung etwas Spezielles vorfällt. Und in Kindergarten und Grundschule sind es halt meistens Lehrerinnen, welche Hauptansprechperson der Kinder sind. Im Förderverein gibt’s zum Glück auch etliche, sehr engagierte Männer. Gesamtgesellschaftlich ist es aber, leider, immer noch vorwiegend Frauensache …
Super Bericht. Vielen Dank